Joan Nestle | Übersetzt von Anna Kuntze
Brief an meine Community: Ein kräftiges JA einer Gemeinschaft
Die Zeiten sind nicht leicht, doch es sind Zeiten, die sein müssen 1. Um uns herum debattieren Leute in Führungspositionen unsere Menschlichkeit, als wären wir nicht hier, als wären wir menschliche Objekte, die sich hin- und herschieben lassen, während sie sich in ihrem kleinen Verstand und ihrem noch kleineren Herzen mit »dem Homosexuellenproblem« herumschlagen. Andere Menschen, arbeitende Menschen, eisern, wenn es darum geht, ihre Kinder zu schützen und ihren religiösen Oberhäuptern zu folgen, geloben Engstirnigkeit. Fromme Katholik*innen, jüdische Orthodoxe, christliche Fundamentalist*innen wissen, was Gott über uns gesagt hat. Die Mächtigen und die Machtlosen reichen einander in ihrem Urteil die Hände.
Wir aber kommen mit vollen Händen. Wir kennen unsere Geschichte, kennen unsere Dichter*innen, kennen die Communitys unserer Vergangenheit, die für uns ganze Welten erbaut haben. Wir kommen als Frauen, die sich weigerten, perfekt oder kindlich oder gefesselt zu sein; wir kommen als Männer, die für die Liebe einiger alles verloren haben. Wir beobachten ihre traurigen Darbietungen; wir können neue Zeiten aufbauen.
Seit vier Jahrzehnten behaupte ich mich in dieser Welt als Liebhaberin von Frauen. Nachts habe ich für die Liebe von Frauen die Beine gespreizt und die Lippen gesenkt und tagsüber habe ich meine Studierenden unterrichtet. Die Art, wie ich liebte, erfüllte die Art, wie ich unterrichtete, die Art wie ich liebte, gab den Büchern Gestalt, die ich schrieb, die Art, wie ich liebte, formte meine Kämpfe für politische Veränderung. Hunderttausende von uns schöpften aus dem verborgenen Quell ihrer Leidenschaft, um öffentliche Schönheit in diesem Land zu erschaffen.
»Wir nehmen Geliebte in den Mund, wir nehmen Brüste und Schwänze in den Mund, wir nehmen Nässe und Fülle in den Mund, aber niemals ihr Schweigen«
Angebote macht man uns: Seid still, posaunt es nicht heraus, sagt es niemandem und ihr bekommt einen Platz. Schweigen gewinnt uns keinen ehrlichen oder sicheren Platz. Sprechend sind wir unmöglich – schweigend sind wir möglich. Aber unsere Herkunft verlangt nach Lautstärke. Radclyffe Hall schreit ihren Anwalt an: »Mein Buch handelt von Invertierten, nicht bloß Freundinnen.« Oscar Wilde schimpft: »Meine Liebe junger Männer tötet ihr nicht, indem ihr mich ins Gefängnis werft.« Pat Parker fragt mahnend: »Wo werdet ihr sein, wenn sie euch holen wollen?« Mabel Hampton brüstet sich: »Was soll das heißen, wann habe ich mich geoutet? Ich war nie ungeoutet.« Audre Lorde ruft: »Schweigen rettet niemanden.« Sie können uns das Schweigen nicht in den Mund zwingen. Wir nehmen Geliebte in den Mund, wir nehmen Brüste und Schwänze in den Mund, wir nehmen Nässe und Fülle in den Mund, aber niemals ihr Schweigen – denn daran würden wir ersticken.
Fromme Eltern und Familienexpert*innen sagen, wir seien für Kinder unangebracht, Verstehen sei für Kinder unangebracht, lesbische Eltern zu treffen, schade Kindern. Lasst sie herausfinden, dass es solche Leute gibt, wenn sie älter sind, sagen sie, als wären wir eine seltsame Speise, die nur Erwachsenen schmecken kann. Lasst mein Kind auf dem Schulhof zum Mann geprügelt werden, lasst meine Tochter den Mut verlieren, beim Versuch, das Leben einer Frau zu führen – aber lasst sie niemals wissen, dass Geschlecht kein Gefängnis ist, dass die Liebe nicht immer den gleichen zufällt. Die Leute, die uns von Kindern fernhalten wollen, kämpfen um die Bewahrung eines Schlachtplatzes.
Andere ausgegrenzte Menschen sagen uns, dass es auf die Perspektive ankommt. Frederick Douglass schrieb: »Was er am meisten liebte, hasste ich am meisten; was ihm Leben verlieh, bedeutete für mich den Tod.« Die sterbenden Herrscher haben ein Kartenhaus errichtet, aus einem vollständigen Satz des Hasses, und sind in dessen Spiegelbildern gefangen. Wir müssen uns selbst kennen, die Standhaftigkeit unserer Geschichte und unsere Gabe der Liebe, damit wir durch ihr Spiegelkabinett auf die Herausforderung zugehen können, die uns erwartet: eine gerechtere Welt zu erschaffen.
»All ihre Worte und Gründe, uns auszuschließen, der ganze Tumult ihres Neins, all das wird im Schatten der Geschichte versinken.«
Es wird den Zusammenhalt der mörderischen Streitkräfte zerstören, wenn wir mit unseren Namen auf den Lippen auftreten, sagen die Militärexperten, allmächtige Männer, die auf denselben Stühlen sitzen wie die anderen Männer, die in der Vergangenheit darüber entschieden haben, was real war – die Männer des House Un-American Activities Committee, die Irangate-Männer, die Anita-Hill-Männer. Sie sind zu hohlen Stimmen geworden, während wir voranschreiten. Wie Gespenster sitzen sie auf ihren Stühlen, formen mit den Lippen die Glaubensbekenntnisse einer untergehenden Welt; aber selbst mit ihrem dünnen Geschwafel verstümmeln sie die Hoffnung.
Denkt daran, was sie von uns fürchten: Liebe und Begehren, Rebellion und Verschiedenheit, Spiel, Sanftheit, Berührung, freiere Kinder, die sich gegenseitig nicht Schwuchtel nennen, Mädchen, die nach eigenem Ruhm streben, Männer, die Weichheit nicht hassen müssen. All ihre Worte und Gründe, uns auszuschließen, der ganze Tumult ihres Neins, all das wird im Schatten der Geschichte versinken.
Ihr, meine queeren Genoss*innen, habt mir eine Welt gegeben, in der meine Worte leben konnten, in der meine Liebe von der Sonne geküsst wurde, in der meine Wut zu Visionen des Möglichen wurde. Die Zeiten sind schwer, aber sie sind nötig. Es sind die Zeiten, in denen wir SIND – ein kräftiges JA einer Gemeinschaft.
- Dieser öffentliche Brief wurde 1993 verfasst, nachdem ich die Senatsanhörungen über schwule Männer beim Militär verfolgt, einen Sixty-Minutes-Beitrag zur Debatte über das Regenbogencurriculum gesehen und monatelang die Diskussionen über die Menschlichkeit von Schwulen und Lesben in der New York Times gelesen hatte. ↩︎